Bei der sog. Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) handelt es sich um eine systemisch bedingte Strukturanomalie primär des Schmelzes, welche an einem bis zu allen vier ersten bleibenden Molaren auftritt. Häufig weisen auch die bleibenden Frontzähne und zunehmend auch die 2. Milchmolaren diese Fehlstrukturierung auf. Klinisch fällt die unterschiedliche Ausprägung der Erkrankung auf. Die Mineralisationsstörung kann sich dabei auf einen einzelnen Höcker beschränken oder aber die gesamte Oberfläche der Zähne betreffen. Die milde Form der MIH zeigt eher weiß-gelbliche oder gelb-braune, unregelmäßigen Opazitäten im Bereich der Kauflächen und/oder Höcker. Die schwere Form der Zahnentwicklungsstörung weisen abgesplitterte oder fehlenden Schmelz- und/oder Dentinareale unterschiedlichen Ausmaßes auf (Abb. 1- 4). Die Zähne brechen teilweise mit diesen Veränderungen in die Mundhöhle durch und sind unter Umständen sehr sensibel auf Kälte und Zähneputzen.
Abb. 1: Milde Form der MIH. Verfärbungen, die auf den weichen MIH-Schmelz hinweisen, sind auf der Kaufläche des Backenzahnes zu erkennen. Ein wichtiges Charakteristikum des Schmelzes ist die um Faktor 10 reduzierte Härte, so dass mit Karies und Einbruch der Oberfläche unter Kaubelastung gerechnet werden muss.
Die Erkrankung wurde in dieser Form erstmals vor 1987 von G. Koch beschrieben. Vor diesem Hintergrund schwanken die Literaturangaben zur Prävalenz der MIH sehr. In Abhängigkeit von der Studie und den Bewertungskriterien sind Häufigkeiten zwischen 3,6 % und 37 % zu finden. Aktuelle Studien aus Deutschland zeigen, dass im Durchschnitt etwa 10 bis 15% der Kinder an MIH leiden. Die jüngste DMS V – Studie zur Mundgesundheit berichtet über knapp 30% (!) der 12-jährigen Kinder, die diese Strukturanomalie haben. Bezogen auf die Mundgesundheit und die Lebensqualität der Kinder ist MIH mittlerweile ein größeres Problem als Karies in dieser Altersgruppe.
Die Ätiologie der MIH muss bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt als weitgehend ungeklärt angesehen werden. Da die Schmelzentwicklung der ersten Molaren und der Inzisivi zwischen dem achten Schwangerschaftsmonat und dem vierten Lebensjahr stattfindet, muss die Störung auch in dieser Zeitspanne aufgetreten sein. Diskutiert wird ein multifaktorielles Geschehen. Als potenzielle Ursachen kommen Probleme während der Schwangerschaft, Infektionskrankheiten, Antibiotikagaben, Windpocken, Einflüsse durch Dioxine sowie Erkrankungen der oberen Luftwege in Betracht. Aufgrund von Tierversuchen konnte ein Zusammenhang zwischen dem Bisphenol A-Konsum und der Entwicklung von MIH nachgewiesen werden.
Charakteristisch ist, dass die betroffenen Molaren häufig recht empfindlich auf mechanische, thermische und chemische Reize sein können. Erklärt wird dies durch eine chronische Entzündung (Reizung) der Pulpa, bedingt durch die erhöhte Porosität des Schmelzes mit andauernder Einwirkung von obigen Noxen. Die betroffenen Patienten klagen über Schmerzen beim Trinken, Essen und Zähneputzen. Dies beeinträchtigt die Lebensqualität der jungen Patienten und erschwert die Behandlung beim Zahnarzt. Trotzdem ist in diesen Fällen ein schnelles therapeutisches Eingreifen dringend geboten.
Die Art der Behandlung hängt von dem Grad der Erkrankung ab. Dies gilt als Grundlage für das neu entwickelte Würzburger MIH-Konzept (MIH-Treatment Need Index) und soll Zahnärzten als Handlungsanweisung zur angemessenen Versorgung der kleinen Patienten dienen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass MIH aufgrund der Prävalenz als neue Volkskrankheit bezeichnet werden muss. Weichmacher aus Kunststoffen scheinen eine wesentliche Rolle bei der Entstehung zu spielen. Die schweren Fälle der MIH stellen in der zahnärztlichen Praxis aufgrund der akuten Beschwerden einen Schmerz-Notfall dar. Vom Zahnarzt ist dann ein sofortiges Eingreifen zu erwarten.
Prof. Dr. Norbert Krämer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ), Poliklinik für Kinderzahnheilkunde, Justus-Liebig-Universität Gießen